Kritikalität

04 Aug 2014 - tsp
Last update 16 Apr 2019
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Eingruppendiffusion, kein Reflektor

Im folgenden wird ein Reaktor aus einem homogenen Gemisch von Brennstoff und Moderator betrachtet, wobei von relativ großen Geometrien ausgegangen wird. Die Eingruppendiffusionsgleichung

[ \begin{align} D \Delta \phi(\vec{r}, t) - \Sigma_a \phi(\vec{r}, t) + S_{th}(\vec{r}, t) = \frac{1}{v} \frac{\text{d} \phi(\vec{r}, t)}{\text{d}t} \\ S_{th} = p(E_{th}) q(\vec{r}, \tau_{th}, t) \\ p = \text{e}^{- \frac{N_a}{\chi \Sigma_s} \int_{E_{th}}^{E_0} \sigma_{a_{eff}} \frac{\text{d}E}{\text{E}}} \\ \frac{\partial q(\vec{r}, \tau_{th}, t)}{\partial \tau_{th}} = \Delta q(\vec{r}, \tau_{th}, t) \end{align} ]

Bei der letzten Zeile Zeile handelt es sich um die Fermi Altergleichung. Die Resonanzentkommwahrscheinlichkeit $p$ wird ebenfalls bei der Fermi Altergleichung hergeleitet.

Die Randbedingungen lauten

[ \begin{align} \phi(\vec{\tilde r}, t) = 0 \\ q(\vec{\tilde r}, \tau, t) = 0 \\ q(\vec{r}, \tau=0, t) = \underbrace{\frac{k_\infty}{p} \Sigma_a \phi(\vec{r}, t)}_{\text{Spaltneutronen}} + \underbrace{Q(\vec{r})}_{\text{stationäre Quellen}} \end{align} ]

Bei der letzten Bedingung wurde die Vierfaktorformel mit dem Neutronenvermehrungsfaktor $k_\infty$ und der Resonanzentkommwahrscheinlichkeit $p$ verwendet ($\Sigma_s \phi(\vec{r}, t)$ ist die Zahl der absorbierten Neutronen), durch die Multiplikation mit $\frac{k_\infty}{p}$ wird die Zahl der durch diese absorbierten Neutronen freigesetzten neuen schnellen Neutronen bestimmt. </p>

Zur Lösung der Gleichung wird ein Separationsansatz $q(\vec{r}, \tau, t) = R(\vec{r}) \Theta(\tau) T(t)$ mit der Randbedingung $\Theta(0) = 1$ gewählt. Da die Fermi Altersgleichung nicht explizit von $t$ abhängt, folgt nach der Separation

[ \begin{align} \frac{\Delta R(\vec{r})}{R(\vec{r}} = \frac{1}{\Theta(\tau)} \frac{\text{d} \Theta(\tau)}{\text{d} \tau} \\ \frac{\Delta R(\vec{r}}{R(\vec{r}} = -B^2 \\ \frac{1}{\Theta(\tau)} \frac{\text{d} \Theta(\tau)}{\text{d} \tau} = -B^2 \\ \to \Theta(\tau) = \text{e}^{-B^2 \tau} \end{align} ]

Für die Lösung von $R(\vec{r})$ werden weitere Randbedingungen benötigt. Im folgenden wird ein kugelsymmetrisches Problem betrachtet:

[ \begin{align} \frac{\text{d}^2 R}{\text{d}r^2} + \frac{2}{r} \frac{\text{d}R}{\text{d}r} + B^2 R = 0 \\ R(r) = \frac{u(r)}{r} \\ \to \frac{\text{d}^2 u}{\text{d}r^2} + B^2 u = 0 \to R(r) = \frac{1}{r} \left(A \sin (Br) + C \cos (Br) \right) \end{align} ]

Mit der Forderung, dass $\phi(\tilde r) = 0$ und an der Stelle $\phi(0)$ endlich sein muss, folgt, dass $C=0$, $A \sin(Br) = 0$ und damit $B_n = \frac{n \pi}{\tilde r}$ mit $n \in \mathbb{N}$.

[ \begin{align} R(r) = \frac{1}{r} \sum_{n=1}^{\infty} A_n \sin (B_n r) \end{align} ]

Da die Eigenfunktionen $R(r)$ allgemein orthogonal aufeinander stehen müssen, können Quellterme in diesen Eigenfunktionen entwickelt werden, dass heißt

[ \begin{align} Q(\vec{r}) = \sum_n Q_n R_n(\vec{r}) \\ Q_n = \frac{\int Q(\vec{r}) R_n(\vec{r}) \text{d}V}{\int R_n(\vec{r}) \text{d}V} \\ \to \phi(\vec{r}, t) = \frac{p}{k_\infty \Sigma_a} \sum_n \left( A_n T_n(t) - Q_n \right) R_n(\vec{r}) \end{align} ]

Einsetzen in die Eingruppendiffusionsgleichung liefert

[ \begin{align} \sum_{n=1}^\infty \left( -\frac{1}{k_\infty} \left(\frac{D B_n^2}{\Sigma_a} + 1\right) \left(A_n T_n - Q_n\right) + A_n \text{e}^{-B^2 \tau_{th}} T_n \right) R_n = \sum_{n=1}^\infty \frac{1}{v k_\infty \Sigma_a} A_n \frac{\text{d}T_n}{\text{d}t} R_n \\ \to -\frac{1}{k_\infty} \left(\frac{D B_n^2}{\Sigma_a} + 1\right) \left(A_n T_n - Q_n\right) + A_n \text{e}^{-B^2 \tau_{th}} T_n = \frac{1}{v k_\infty \Sigma_a} A_n \frac{\text{d}T_n}{\text{d}t} \end{align} ]

Mit Hilfe von $L^2 = \frac{D}{\Sigma_a}$ sowie $l_0 = \frac{1}{\Sigma_a v}$ folgt mit $k_n = \frac{k_\infty \text{e}^{- B_n^2 \tau_{th}}}{1 + L^2 B_n^2}$ und $l_n = \frac{l_0}{1 + L^2 B_n^2}$

[ \begin{align} \frac{\text{d}T_n(t)}{\text{d}t} = \frac{k_n - 1}{l_n} T_n(t) + \frac{Q_n}{A_n l_n} \\ T_n(t) = \text{e}^{\frac{(k_n - 1)t}{l_n}} + \frac{Q_n}{A_n(1-k_n)} \end{align} ]

[ \begin{align} \phi(\vec{r}, t) = \frac{p}{k_\infty \Sigma_a} \sum_{n=1}^\infty \left(\underbrace{A_n \text{e}^{\frac{(k_n - 1)t}{l_n}}}_{\text{Brennstoffbeitrag}} + \underbrace{\frac{Q_n}{1 - k_n} - Q_n}_{\text{Stationäre Quellen}} \right) R_n \end{align} ]

Hieraus ist zu erkennen, dass der Fluss exponentiell abnimmt, solange $k_n < 1 \forall n$. Vergrößert man den Reaktor $\tilde r$, entspricht dies einer Reduktion von $B_n$ und damit einer Vergrößerung von $k_n$. Bei $k_n=1$ gilt $B=B_1$:

[ \begin{align} k = \frac{k_\infty \text{e}^{-B^2 \tau_{th}}}{1 + L^2 B^2} = 1 \end{align} ]

Für Terme mit $n > 1$ gilt $k_n < 1$, womit die rasch abklingen und nur der Term $k_1$ relevant ist. Für Fluss und Bremsdichte erhält man durch Einsetzen

[ \begin{align} \phi(\vec{r}) = \frac{p}{k_\infty \Sigma_a} A_1 R_1 = \underbrace{\frac{p}{k_\infty \Sigma_a} \frac{A}{r} \sin\left(\frac{\pi r}{\tilde r}\right)}_{\text{Kugelsymmetrie}} \\ q(\vec{r}, \tau_{th}) = A_1 R_1 \text{e}^{-B^2 \tau_{th}} = \frac{k_\infty \Sigma_a}{p} \phi(\vec{r}) \text{e}^{-B^2 \tau_{th}} \end{align} ]

Im stationären Fall folgt

[ \begin{align} D \Delta \phi(\vec{r}, t) + \left(-\Sigma_a + p \frac{k_\infty}{p} \Sigma_a \text{e}^{-B^2 \tau_{th}} \right) \phi(\vec{r}, t) = 0 \\ \Delta \phi + B_m^2 = \phi = 0 \end{align} ]

Die Größe $B_m$ (der materielle Buckling) ist hierbei nur vom Material und der Geometrie des Reaktors abhängig. Für den genau kritischen Reaktor folgt $B=B_m$

Endlicher Reaktor

Für den endlichen Reaktor gilt, dass $p q(\vec{r}, \tau_{th}) = k_\infty \Sigma_a \phi(\vec{r}) \text{e}^{-B^2 \tau_{th}}$ woraus man einfach erkennen kann, dass $\text{e}^{-B^2 \tau_{th}}$ die Verbleibwahrscheinlichkeit $P_s$ eines Neutrons innerhalb des Reaktors ist. Da pro Volumselement $D \Delta \phi(\vec{r}) = D B^2 \phi(\vec{r})$ thermische Neutronen entweichen sowie $\Sigma_a \phi(\vec{r})$ Neutronen absorbiert werden, gilt für das Verhältnis zwischen thermischen Sickerverlusten und thermischer Absorption $\frac{DB^2\phi}{\Sigma_a \phi} = L^2 B^2$. Hieraus folgt, dass das Verhältnis absorbierter zu verlorenen Neutronen $\frac{1}{1 + L^2 B^2}$ ist, wobei es sich um die Verbleibwahrscheinlichkeit thermischer Neutronen $P_{th}$ handelt.

[ \begin{align} \text{e}^{B^2 \tau_{th}} (1 + L^2 B^2) \approx (1 + B^2 \tau_{th})(1 + L^2 B^2) \\ \approx 1 + B^2(\tau_{th} + L^2) \\ \to \frac{k_\infty}{1 + B^2(\tau_{th} + L^2)} = 1 \end{align} ]

Allgemein folgt für die kritische Gleichung in der letzten Zeile für $n$ Gruppentheorie, dass

[ \begin{align} \frac{k_\infty}{\Pi_{i=1}^{n} \left(1 + L_i^2 B^2\right)} = 1 \end{align} ]

Abschätzung eines Reaktors

Hierfür wird die Brennstoffzusammensetzung sowie die entsprechenden Wirkungsquerschnitt (Streuung, Absorption und Fusionsquerschnitte) sowie der Schnellspaltfaktor benötigt. Mit diesen Faktoren wird $k_\infty$ berechnet, wobei ein Reaktor nur dann eine selbsterhaltende Kettenreaktion erreichen kann, wenn $k_\infty \geq 1$ gilt. Ist diese Bedingung erfüllt, kann die kritische Gleichung und somit eine Bedingung für $B$ betrachtet werden, woraus die Geometriefaktoren extrapoliert werden können.

Der Materielle Buckling für verschiedene Geometrien ergibt sich zu:

Geometrie Buckling
Kugel $B = \frac{\pi}{\tilde r}$
Quader $B^2 = \left(\frac{\pi}{\tilde a}\right)^2 + \left(\frac{\pi}{\tilde b}\right)^2 + \left(\frac{\pi}{\tilde c}\right)^2$
Zylinder $B^2 = \left(\frac{2,405}{\tilde r}\right) + \left(\frac{\pi}{\tilde h}\right)$

Eingruppendiffusion mit Reflektor

Bei Reaktoren kann mit Hilfe eines Reflektors die kritische Masse des Reaktors erheblich reduziert werden. Je nach Material trägt der Reflektor auch erheblich selbstständig zur Neutronenmoderation bei. Bei Reaktoren können zum Beispiel Ummantelungen aus leichten Materialien wie Graphit oder Beryllium parallel als Reflektor und als Moderator genutzt werden. Werden schwere Materialien eingesetzt (Blei, Blei-Bismut-Eutektika, etc.) erfolgt zwar eine Reflektion, aber keine Moderation.

In Kernwaffen ist im Vergleich zu Reaktoren ein schwerer Tamper gewünscht, da der Einfluss der Reflexion auf die Effizienz aufgrund der hohen Verzögerung gering, die zurückhaltende Wirkung durch die Trägheit schweren umgebenden Materials hingegen signifikant für die Dauer der Reaktion ist (die Zugfestigkeit ist aufgrund der hohen freiwerdenden Energie irrelevant, die Zurückhaltung des Materials erfolgt rein durch die träge Masse). Heute werden häufig in den ersten Stufen leichte Beryllium Reflektoren eingesetzt um nach der ersten Gammaionisation ein Erhitzen der äußeren Lagen und dadurch eine Unterstützung der Kompression bei gleichzeitigem Zurückhalten der Neutronen in den ersten Stufen zu ermöglichen.

Bei der Betrachtung eines Reflektors kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Bremsdichte und damit der Quellterm thermischer Neutronen überall proportional zum Neutronenfluss ist. Die Eigenschaften der Spaltzone vom Reflektor unterscheiden sich gravierend, das Energiespektrum erfährt in der Nähe der Trennfläche zwischen Kern und Reflektor eine gravierende Änderung.

Eine Betrachtung in Kugelgeometrie erlaubt wiederum die Betrachtung Eingruppendiffusionsnäherung:

[ \begin{align} D \Delta \phi(r) - \Sigma_a \phi(r) + S_{th}(r) = 0 \\ S_{th}(\vec{r}, \tau) = p(E_{th}) q(\vec{r}, E_{th}) \\ q(\vec{r}, \tau_{th}) = \frac{k_\infty \Sigma_a}{p} \phi(\vec{r}) \text{e}^{-B^2 \tau_{th}} \\ \Delta \phi_K + B_K^2 \phi_K = 0 \end{align} ]

Hierbei sind $\phi_K$ und $B_k$ Größen innerhalb des Kerns. Im Quellfreien Raum und damit im Reflektor gilt

[ \begin{align} \Delta \phi_R - \frac{1}{L_R^2} \phi_K = 0 \\ L_R^2 = \frac{D_R}{\Sigma_{aK}} \end{align} ]

Radialsymmetrisch bedeutet dies mit $\phi = \frac{u(r)}{r}$, dass

[ \begin{align} \frac{\text{d}^2 u_K}{\text{d}r^2} + B_K u_K = 0 \\ \frac{\text{d}^2 u_K}{\text{d}r^2} - \frac{1}{L_R^2} u_R = 0 \\ \phi_K(r) = \frac{u_K(r)}{r} = \frac{A_r \sin B_K r + B_r \cos B_K r}{r} \\ \phi_R(r) = \frac{u_R(r)}{r} = \frac{C \text{e}^{-\frac{r}{L_R}} + D \text{e}^{\frac{r}{L_R}} }{r} \end{align} ]

Randbedingungen sind das Verschwinden des Flusses am Rand des Reflektors $\phi_R(\tilde r_2) = 0$ sowie die Endlichkeit von $\phi$ bei $r=0$ (d.h. $B_r = 0$ und $D = -C \text{e}^{-\frac{2 \tilde r_2 }{L_R}}$). Eine weitere Forderung ist die Stetigkeit des Flusses $\phi$ und des Stroms $D \frac{\text{d}\phi}{\text{d}r}$ zwischen Reflektor und Spaltzone bei Radius $r = r_1$. Aus dieser Stetigkeitsbedingung folgt schlussendlich

[ \begin{align} \text{cot} B_k r_1 = \frac{1}{B_k r_1} \left(1 - \frac{D_R}{D_K} \right) - \frac{D_R}{D_K B_K} \frac{1}{L_R} \text{coth} \left(\frac{\tilde r_2 - r_1}{L_R}\right) \end{align} ]

Der Reflektorgewinn $\delta = r_0 - r_1$ ist die Verkleinerung des kritischen Volumens durch das Vorhandensein des Reflektors. Dieser kann für große Radien und einen dicken Reflektor ($(r_2 - r_1) \gg L_R$) als $\delta \approx \frac{D_K}{D_R} L_R$ abgeschätzt werden.

Zweigruppendiffusion mit Reflektor

Hierbei ergeben sich für zwei Energiegruppen thermischer (Gruppe 2) und schneller (Gruppe 1) Neutronen unter vernachlässigung von Aufwärtsstreuung die Gleichungssysteme

[ \begin{align} D_{1K} \Delta \phi_{1K} - \Sigma_{a1K} \phi_{1K} - \Sigma_{sK}^{1 \to 2} \phi_{1K} + v_1 \Sigma_{f1K} \phi_{1K} + v_2 \Sigma_{f2K} \phi_{2K} = 0 \\ D_{2K} \Delta \phi_{2K} - \Sigma_{a2K} \phi_{2K} + \Sigma_{sK}^{1 \to 2} \phi_{1K} = 0\\ D_{1R} \Delta \phi_{1R} - \Sigma_{a1R} \phi_{1R} - \Sigma_{sR}^{1 \to 2} \phi_{1R} = 0\\ D_{2R} \Delta \phi_{2R} - \Sigma_{a2R} \phi_{2R} + \Sigma_{sR}^{1 \to 2} \phi_{2R} = 0 \end{align} ]


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Dipl.-Ing. Thomas Spielauer, Wien (webcomplains389t48957@tspi.at)

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